Klassischer Gesang vs. Musicalgesang

Das Folgende ist ein Ausschnitt aus dem Vortrag von Prof. Posey beim Kongress des Bundesverbands Deutscher Gesangspädagogen

Ich war neulich in einer Stadttheater-Produktion von Evita wo die Hausmezzosopranistin die Hauptrolle gespielt hat. Ich habe diese Frau bewundert, vor allem ihren Mut, weil sie ohne erkennbare Kenntnisse in Musicalgesang ihre Bruststimme mit großem Ehrgeiz so oft wie möglich einsetzte, um vermutlich dieser Rolle Genre-gerecht zu werden. Sie schaffte es auch, bis zu einer gewissen Grenze, über die sie dann jodelte, und in ihrem klassischen Sopran einfach weiter machte. Ich habe sie trotzdem echt bewundert. Der Wille war da, nur die Kenntnisse nicht. Und ich dachte mir, „genau darum geht es“. Wenn diese mutige Frau in ihrer Ausbildung, Nutzungen, Muskelkoordination und Resonanzen auch außerhalb ihrer gewählten Richtung gelernt hätte, hätte sie an diesem Abend eine effektivere und vor allem gesündere Alternative gehabt.

Auf der einen Seite der Idealismus: Man lernt eine Gesangstechnik und was nicht dazu passt wird auch nicht gelernt.

Auf der anderen Seite die Realität: Klassische Sänger singen oft außerhalb ihres Fachs und die Wahrscheinlichkeit, dass auch Musicalrollen dazu kommen, ist in der heutigen Zeit größer als je zuvor.

Ich arbeite mit vielen Tänzern, und wir können etwas von ihnen lernen. Tänzer, ob Modern, Jazz, Hip-Hop, Step oder Ballet, sehen ihren Körper in seiner Gesamtheit. Sie trainieren ihn, oft in Isolation, unter dem Motto, was in Isolation gut trainiert ist, funktioniert auch besser in der Koordination.

Die Gesangstimme in ihrer Gesamtheit zu betrachten, die Möglichkeiten der Gesangsstimme auszuschöpfen, natürlich unter den Gesetzen der Anatomie und der Akustik, ist für die Gesangspädagogik von größter Bedeutung oder sollte es sein.

In meiner Arbeit geht es darum: Wenn Sänger mit den kompletten Möglichkeiten ihrer Stimme vertraut sind, sind sie auch besser in der Lage den Anforderungen des Geschäfts gerecht zu werden.

Großartiger Gesang ist die Fähigkeit die isolierten Funktionen von Atem, Muskeln und Resonanzen zu koordinieren, um einen gewünschten Klang zu erzeugen – jeden Klang!

Die im klassischen Gesang als gut und gesund erachteten Klänge, sind nicht die einzigen guten und gesunden Klänge, welche der menschlichen Stimme möglich sind!

Die Kunst im Gesang ist die Balance, und darin finden wir auch die größten Unterschiede zwischen klassischem und Musicalgesang.

Balance der Muskelkoordination
Die Muskelaktivitäten zu koordinieren betrifft vor allem die Adduktoren und die Stimmlippenspanner. Für das Verhältnis von Brust zu Kopf spielen die Stimmlippenspanner die Hauptrolle.

• Zum einen der TA-Muskel oder m. thyroarytenoideus, dessen isolierter Klang als „brustig“ beschrieben wird.
• Zum anderen der CT-Muskel oder m. cricothyroideus, dessen isolierter Klang als „kopfig“ beschrieben wird.

Das Ziel dieser Koordination im klassischen Gesang ist eine ausgeglichene Stimme mit einheitlichem Timbre ohne erkennbare „Übergänge“ durch die funktionalen und akustischen Register.

Eine Stimme, die von unten bis oben mit immer höherem Kopfanteil ausgeglichen ist, nutzt ein Musicalsänger weniger. Ausgeglichen und einheitlich sind nicht immer das Ziel im Musicalgesang, sondern in jeder Lage des Stimmumfangs eine variierte Nutzung: mal hauchig, mal klar, mal gerufen, mal gesungen, mal vorne, mal hinten, mal gebeltet, mal nicht.

Zudem durch die Wichtigkeit einer sprechähnlichen Stimmqualität sind die TA-Aktivitäten in der Muskelkoordination automatisch erhöht.

Das ständig wechselnde Verhältnis von Brust zu Kopf in jeder Lage, zu jeder Zeit ist einer der wichtigsten Unterschiede zum klassischen Gesang und fordert ein höchstes Maß an Muskelkoordination begleitet von Vokalmodifikation und Änderungen im Vokaltrakt.

Balance der Resonanzen
Beide, klassische und Musicalsänger, nutzen Vokalmodifikation und Änderungen im Vokaltrakt , u. A. um die Muskelkoordination zu unterstützen. Was sie auch gemeinsam nutzen, ist Formanttuning. Wobei für den klassischen Sänger der Sängerformant eher die Resonanzstrategie ist, während für den Musicalsänger eine Verstärkung des zweiten Formanten, vor allem im Belt, bevorzugt wird.

Wenn es um Resonanzen geht, geht es aber vor allem um den Klang.

Von einem klassischen Sänger wird ein klassischer Klang erwartet, wie es die Tradition seit Jahrhunderten verlangt. Der Klang im Musicalgesang unterliegt eher dem natürlichen Ausdruck, der authentisch und größtenteils textbezogen ist. Dazu kommt die stilistische Vielfalt des Genres, z. B. Pop, Rock, Jazz, Country oder Klassik, die eine breitere Palette an Klängen fordert, auch jene außerhalb der klassischen Klangideale, wie z.B. Belt.

Balance in der Atemführung
Es ist zwar richtig, dass es ohne Atem keinen Ton gäbe, aber die größtmögliche Einatmung ist keine Voraussetzung für die gesunde Tonerzeugung. Es ist die Fähigkeit den Atem zu regulieren bzw. variieren, die für den Gesang wichtig ist. Unterschiede in der Komprimierung und Stimmbandspannung benötigen auch Unterschiede im Atemdruck um eine gesunde Stimmbandschwingung zu gewährleisten. Das gilt für beide klassischen und Musicalgesang.

Musical, mit seinen ständig wechselnden Mischverhältnissen, benötigt eine viel variiertere Atemführung. Grundsätzlich gilt: umso leichter der Mechanismus, je fließender der Atem. Bei schwereren Mechanismen (z. B. Belt) ist der Atemdruck am geringsten.

Belt
Im Belt kommt alles zusammen: Die Balance der Muskelkoordination, der Resonanzen und in der Atemführung.

• Belt ist eine TA-dominante Muskelmischung und keine isolierte Bruststimme.
• Um die erhöhte TA-Aktivität zu balancieren, werden spezifische Vokalmodifikationen, Änderungen im Vokaltrakt, sowie eine Reduktion des Atemdrucks eingesetzt.
• Die Kehlkopfstellung ist variable; nicht immer gerade und nicht immer hoch: höher für hellere Klänge und tiefer für dunklere.
• Belt kann hell oder dunkel, offen oder „zu“, vorne oder hinten sein.
• Eine konstante Nutzung ist unwahrscheinlicher als ein bewusstes Einsetzen, z.B. um einzelne Töne, Wörter, Emotionen oder Situationen hervorzuheben.
• Belt wird von Frauen als auch von Männern genutzt
• Und so wichtig wie Belt im Musicalgesang ist, ist Musicalgesang mehr als nur Belt

Es wird nicht ständig in Belt gesungen! Ich bin mir nicht sicher, ob das allen meinen Kollegen klar ist.

Auch wenn Belt vielleicht am weitesten vom klassischen Gesang entfernt ist und dadurch macht es möglicherweise so viel Spaß darüber zu diskutieren, ist es nur eine von vielen Klangeigenschaften, die für Musical wichtig sind.

Twang
Twang ist seit einigen Jahren hoch im Kurs, wenn es um Musicalgesang geht. Als Texaner war ich ziemlich schockiert, als ich Twang das erste Mal als Fachbegriff im Gesang hörte, weil Twang für uns eine Klangbeschreibung unseres Dialekts und unserer Musik – die Country and Western Music – ist. Eine Verkürzung und Verengung im Vokaltrakt um einen bestimmten Klangeffekt zu erzeugen ist allerdings nicht neu. Was ich als Operntenor als „squillo“ kannte, kann ich im Musicalgesang als Twang (wiederwillig) übernehmen.

• Twang ist ein nützlicher Aspekt im Musicalgesang, von vielen nützlichen Aspekten.

Schlußwort
Wenn Musicalsänger mindestens ein Jahr klassischen Gesang in ihrer Ausbildung lernen, ist es nicht höchste Zeit, in der klassischen Ausbildung zumindest ein Semester Musicalgesang-Kenntnisse zu verlangen? Eine Grundlage in Muskelkoordination und Resonanznutzungen zu haben, wie sie im Musicalgesang vorkommen, wäre extrem sinnvoll für die Realität eines professionellen Sängers heutzutage. Außerdem wäre es ein wichtiger Schritt…

…die Gesangstimme in ihrer Gesamtheit zu sehen!